Frage des monats
Gibt es das überhaupt?
Die wirkliche bedeutung sprachwissenschaftlicher begriffe
Wir sind es gewohnt, lateinische fachtermini zu verwenden, um uns in einer fremden sprache zurechtzufinden. Begriffe wie
der ablativ,
das perfekt und
die muta,
das futur,
das passiv und
der imperativ,
der konjunktiv,
das prädikativ(um), das
femininum und
das substantiv,
der dental,
der guttural und
der vokal sind uns – oder sollten es zumindest sein – geläufig.
Jahre mögen vergehen, ehe wir verdacht schöpfen. Jahre, in denen wir uns einbilden, diese nomina seien die eigentlich gemeinten dinge, sie seien die substantive, auf die sich die artikel
der…,
die… und
das… beziehen. Geht es Ihnen auch so? Was soll hier schon einer weiteren erklärung bedürfen? Wenn von
dem ablativ die rede ist, dann weiß doch jeder, dass es sich um einen bestimmten, typisch lateinischen deklinationsfall handelt. Da fehlt nichts …
Also gut. (Aber indem Sie dies sagen, sind Sie bereits in die grammatisch-linguistische falle getappt. … Lesen Sie nur in ruhe weiter!)
Irgendwann könnte der tag kommen, an dem sich einer über die gleichlautenden endungen wundert:
der ablativ,
das passiv,
der imperativ,
das substantiv,
der konjunktiv,
das prädikativ. Die grammatik scheint von -iven und -tiven nur so zu wimmeln.
Schaue ich im wörterbuch nach, werde ich jedoch enttäuscht. Unter
ablat… ist selbst im dicken Stowasser kein wort aufgeführt. Unter
passiv… ebensowenig. Gibt es das denn gar nicht? Haben die römer keine grammatik betrieben? Oder völlig andere begriffe verwendet?
Das misstrauen wächst: Warum haben diese wörter eigentlich verschiedene geschlechter? Warum
das substantiv und
der konjunktiv? Wir sind es doch gewohnt, dass wörter mit gleicher endung auch gleiches geschlecht haben. ōrātiō, ōnis f (rede),
adūlātiō, ōnis f (kriecherei), ædificatiō, ōnis f (bau), ĭndŭctiō, ōnis f (das einführen) …
Noch etwas fällt auf: Gelegentlich ist in der grammatik von der
prädikativen verwendung eines substantives die rede oder von einem
attributiven relativsatz. Hier sind die -ive zu adjektiven mutiert, wie sich an der paarung mit den substantiven
verwendung und
relativsatz leicht erkennen lässt.
Und langsam stellt sich die ahnung ein, all diese -ive müssten nicht erst zu adjektiven mutieren, sondern könnten von anfang an solche gewesen sein. Möglicherweise handelt es sich bei diesen grammatikalischen begriffen bloß um attribute, denen die bezugswörter abhandengekommen sind. Böse ausgedrückt: Man will uns die zugehörigen substantive vorenthalten.
… Und das wollen wir uns als möchtegern-lateiner doch nicht gefallen lassen?
Bei der lösung des rätsels fangen wir mit dem oben genannten einwand an, bei
dem ablativ handele es sich – zitat – „um einen bestimmten, typisch lateinischen deklinationsfall”. Das ist zwar inhaltlich richtig, das steht aber nicht da, wenn es heißt:
der ablativ. Genau genommen hat der lateiner damit nämlich nur so viel gesagt wie: „… um einen bestimmten, typisch lateinischen deklinations”. Punkt.
Huch! Da fehlt doch was?
Eben. So gut beherrschen wir nämlich schon die grammatik, dass wir das substantiv
fall ergänzen – und gar nichts vermissen, wenn wir nur von
dem ablativ sprechen. Würde der lateiner ebenfalls die vollständige bezeichnung des gemeinten zum ausdruck bringen, dann spräche er vom
casus ablativus, zu übersetzen etwa mit
herkunftsanzeigender fall. Wie jeder bestätigen kann, der wortabwandlungen (suffixe) studiert hat, sind die auf -ivus endenden worte adjektive (die durch anhängung des suffixes
-ivus aus anderen worten abgeleitet wurden). Da
casus im lateinischen maskulin ist, sprechen wir auch im deutschen von
dem ablativ.
Weil aber jeder weiß, dass es sich beim ablativ nur um den casus eines nomens handeln kann, ersparen es sich die lateiner (und wir heutigen grammatiker), dies dazuzusagen, und sprechen nur von
dem ablativ. Oder hat jemand schon einmal ein verb im
tempus ablativum gesehen? Na, also.
Nun schauen wir uns die übrigen der eingangs genannten begriffe genauer an.
In dem wort
perfekt erkennen wir das lateinische partizip des perfekts im passiv von perfĭcĕre (voll-, beenden) wieder:
perfectus, a, um. Das partizip wird – wie die adjektive – attributiv verwendet, das heißt als beifügung (nähere erläuterung) zu einem substantiv, welches hier aber wieder nicht genannt wird.
Im wort
passiv manifestiert sich sogar eine zweistufige vorgeschichte. Zuerst einmal ist wieder das partizip perfekt passiv des deponens patī ((er-)leiden) zu erkennen:
passus, a, um. Aber – das spüren wir vielleicht schon – anders als beim
perfectus reicht hier das bloße partizip
passus nicht aus, es fehlt noch etwas, um zum
passiv zu kommen. Nämlich das suffix -īvus, welches aus dem partizip ein adjektiv macht.
Die wörter
feminin und
maskulin erinnern wieder an adjektive, und zwar solche, die durch anhängung des suffixes -īnus an ein substantiv entstanden:
femininus, a, um (weiblich) von fēmĭna (frau) und
masculinus, a, um.
Mūtus, a, um (stumm) ist wiederum ein adjektiv.
Bei den auf -al endenden bezeichnungen wie
dental,
guttural,
nasal,
labial,
vokal könnte man weiterspinnen:
fänomenal, radikal,
global … Es sind diese drei letztgenannten fremdwörter, die die eindeutigkeit mit sich bringen, nach der wir suchen. Die wörter auf -al sind nämlich ausschließlich adjektive. Einem substantivisch empfundenen ausdruck wie
der/die/das global ist sicher noch niemand begegnet; immer wird ein substantiv dabeigestanden haben – wie es zum beispiel bei
globale erwärmung der fall ist.
Wir sehen also: Überall nur wörter, die ein anderes (aber nicht genanntes) näher bestimmen. Nirgends haben wir es mit einem substantiv zu tun, mit etwas „substantiellem”, immer mit attributen, die einem substantiv beigefügt werden. Womit der verdacht bestätigt wäre, dass die bezugswörter ungenannt bleiben.
Was sind nun diese ungenannten bezugswörter? Die unterschlagenen substantive? Nachfolgend eine auswahl.
cāsus, ūs m : der fall (bei der deklination eines nomens)
cāsus nōminātīvus: der benenndende fall, nennfall, der nominativ, von nōmĭnāre (benennen)
cāsus gĕnĭtīvus: der herkunftanzeigende fall, der genitiv, von gīgnĕre (erschaffen)
gĕnus, gĕnĕris n : die (verwendungs-) art (oder form) (eines verbs) bzw. herkunft (eines nomens)
Da dieser begriff sowohl bei verben als auch bei nomina verwendet wird, kann man zur unterscheidung auch ergänzen: genus verbi und genus nōmĭnis.
genus (verbi) passīvum: die leideform, das passiv
genus (nominis) fēmĭnīnum: das weibliche geschlecht, das femininum
mŏdus, ī m : die art, weise (einer verbalen aussage)
mŏdus cŏniūnctīvus: die abhängige aussageweise, der konjunktiv, von cŏniŭngĕre (verbinden)
mŏdus (verbi) imperātīvus: die befehlsform, der imperativ, von imperāre (befehlen)
tempus, ŏris n : die zeit (bei der konjugation von verben)
tempus perfectum: die vergangene zeit, das perfekt
tempus fŭtūrum: die künftige zeit, das futur, von fŭtūrus, a, um (künftig)
vōx, vōcis f : stimme, laut (zur bezeichnung von lauten)
vōx mūta: verstummender laut, verschlusslaut, die muta
Warum
die muta – entsprechend ihrer lateinischen herkunft – auch im deutschen als ein feminines wort betrachtet wird, die anderen lautbezeichnungen wie
der guttural dagegen als maskuline wörter, bleibt ein noch zu lüftendes geheimnis.
Ein erklärungsansatz ist, dass ein deutscher bei der verwendung des lateinischen fremdwortes das genus der deutschsprachigen übersetzung im kopf hat und dieses genus auf das fremdwort überträgt. Weil
der laut im deutschen maskulin ist, wäre der deutsche demnach geneigt, eine
vox gutturalis nicht als feminin zu empfinden, sondern als ein
en kehllaut.
Nur, warum sprechen wir dann nicht auch von ein
em muta? … Wohl weil an der femininen endung -a des adjektivs muta allzu deutlich würde, dass wir damit falsch liegen. Die endung eines auf -ālis, -āle endenden adjektivs ist dagegen für maskulinum und femininum gleich – weswegen sie grundsätzlich auch auf ein maskulines substantiv bezogen sein kann.
Ein anderer erklärungsansatz wäre der, dass die lateinischen gegenstücke der im deutschen maskulinen begriffe, also
dentalis,
gutturalis,
labialis und
vocalis, einem anderen lateinischen bezugswort beigeordnet sind – welches dann natürlich maskulin sein müsste. Dies wäre etwa bei sŏnus, ī m (klang) der fall. Allerdings ist es nicht sehr einleuchtend, warum es nötig gewesen sein soll, bei muta, media, tenuis und affricata eine feminine vōx zu ergänzen, bei guttural, dental und labial dagegen einen maskulinen sŏnus.
Damit kommen wir zu einer dritten überlegung. Wurden die maskulinen bezeichnungen erst zu späterer zeit ersonnen, etwa im spät- oder mittelalterlichen latein? Hat sich das latein erst einmal von seiner klassischen fase entfernt, fällt es auch leichter, neues einzuführen, das nicht mehr ganz dem einstigen sprachempfinden entspricht. Es gibt quellen, die auf einen rein substantivischen gebrauch der wörter dentalis, is m, gutturalis, is m, labialis, is m und vocalis, is m hindeuten. Warum diese maskulin sein müssen, ist bei einem eigenständigen substantiv allerdings nicht mehr ersichtlich – ein bezugswort kann man sich ja nicht mehr hinzudenken. Entsprechend verworren ist denn auch die lage hinsichtlich dieser substantivisch verwendeten begriffe, denn andere quellen ordnen ihnen andere geschlechter zu. So ist zum beispiel auch zu finden: vocalis, is f, dentalis, is f und dentale, is n. In den ersten beiden fällen ist der bezug auf die feminine vōx noch erkennbar, das adjektiv wäre dann nur substantiviert worden. Im letzten fall würde das neutrum des adjektivs ein bezugswort ganz überflüssig machen, wenn man dieses neutrum als einen abstrahierenden begriff versteht – wie im deutschen
das schöne oder
das gute (… im menschen). Auch im deutschen wüssten wir gar nicht, welches substantiv wir zu diesem adjektiv
schön oder
gut ergänzen sollten, selbst wenn wir es wollten (… vielleicht „wesen”?). Aber wir brauchen es gar nicht zu wollen, weil wir das neutrum des adjektivs ohne bezugswort als eigenständigen begriff verstehen.
Wer ganz hart im nehmen ist, kann sich nun mit einer weiterführenden fragestellung auseinandersetzen: Was ist gemeint, wenn von
dem kollektiv oder
dem korrektiv gesprochen wird? Welche sprachwissenschaftlichen bezeichnungen verbergen sich dahinter? Welche substantive (bezugswörter) sind hier gegebenenfalls zu ergänzen? Aber: Vorsicht, falle!