L a t e i n i s c h e s    k a b i n e t t

Warum die welt nicht so ist, wie sie ist

Endungslose wörter mit endungen

Hat man Euch auch beigebracht, der infinitiv stelle die endungslose form eines verbums dar? Das verb fīnīre, iō, īvī, ītus meint begrenzen, beendigen, abschließen. Die vorsilbe in- wird außer zur kennzeichnung einer hin-bewegung oder eines beginns auch zur verneinung verwendet. Ein verbum infīnītum ist demnach ein nicht endendes, ein end(ungs)loses wort.

Von einem solchen (formalen) verständnis des begriffes infinitiv ist allerdings dringend abzuraten. Betrachten wir doch einmal einige infinitive mit eigenen augen. Zeichnen. Pingere. Fīnīre. Laudare. Monere. Fliegen. Alles infinitive, stimmt's? Und was ist dieses -en im deutschen und dieses -re im lateinischen? Endungen sind das! Und zwar die für den infinitiv. Formal zumindest haben die infinitive also sehr wohl endungen. Ausnahmslos. Daran kommen wir nicht vorbei.
Es wäre ja auch zu schön, um wahr zu sein: An einen wortstamm hängen wir eine endung an, um dann zu sagen, es handele sich um ein wort ohne endung.

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… Also: Aus der traum vom infinitiv ohne endung.

Ihr seid jetzt überzeugt?

Wir werden uns wohl eine andere vorstellung von dem machen müssen, was es bedeutet, infinit zu sein.
Eines sehen wir sofort: Diese infinitivendungen, -en im deutschen und -re im lateinischen, sind nicht allzu aussagekräftig. Mehr vermögen sie nicht auszusagen als das, dass es sich um einen infinitiv handelt.
Und mit dieser feststellung haben wir bereits den ersten schritt zu einem angemessenen verständnis dieses begriffes gemacht.
Wenn von finiten formen und dem infinitiv die rede ist, müssen wir uns abgewöhnen, an die frage Endung ja oder nein? zu denken. Was also kann mit fīnīre sonst noch gemeint sein, wenn nicht das anhängen einer endung?

Aus der altgriechischen filosofie mag die dualität von idee und gegenständlichkeit bekannt sein. Die idee einer sache wird gedacht als etwas außerhalb der erfahrbaren realität liegendes, gleichsam wie eine wolke über allem schwebendes (oder der sache innewohnendes). Spreche ich von einem stuhl, dann trage ich eine vorstellung von dem in mir, was ein stuhl ist. Nur weil ich diese vorstellung in meinem kopf habe, kann ich einen konkreten stuhl – sei er nun aus holz oder stahl, sei er drei- oder vierbeinig, mit rollen oder ohne, gepolstert oder hart – immer als solchen erkennen. So etwa verhält es sich auch beim infinitiv: Er benennt nur ein untastbares abstraktum außerhalb der wirklichkeit, nichts konkretes. Zeichnen wäre solch eine idee, pingere. Mögen wir auch unwillkürlich an einen bestimmten zeichner denken, der uns imponiert hat, oder an eine konkrete zeichnung, an die wir uns gerne erinnern, so spüren wir doch, dass dieser infinitiv zeichnen, dieses pingere, nur das zeichnen an sich meint, keine konkrete handlung aus unserer erfahrungswelt.
Wobei die idee immerhin einen solchen grad der konkretheit erreicht, dass sie von anderen ideen unterscheidbar ist. Habe ich die vorstellung eines stuhles im kopf, dann sehe ich eben keine maus vor mir. Oder denke ich an das führen eines in farbe getauchten pinsels über papier (zeichnen), dann stelle ich mir eben nicht das führen eines staubsaugers über den fußboden vor (staubsaugen). Was diese ideen aber nicht benennen, ist etwas konkretes, mit unseren sinnen in raum und zeit erfahrbares.
Etwas zu begrenzen oder einzugrenzen, muss nicht nur bedeuten, es zu beenden, ihm eine endung anzuhängen. Ist etwas ohne ende, unbegrenzt, grenzenlos, dann bleibt es „überall und nirgendwo”, ungreifbar, übernatürlich, unwirklich. Es bleibt die bloße abstrakte idee einer handlung. Indem wir dieses unendliche etwas eingrenzen, reduzieren, konkretisieren, in die welt unserer erfahrungen hinunterholen, wird es endlich. Wir legen die infinitiv-endung ab und hängen eine ganz „bestimmte” („finite”) endung an. Das heißt: Wir konjugieren. Du hast gezeichnet. Pinxisti. Durch diese endung wurde der vorgang konkretisiert, näher bestimmt, wurde die idee in die wirkliche welt geholt. Wir sehen: Es geht um ein Du, eine person wird angeredet (die zweite person). Es handelt sich um eine einzelne person, es wird keine gruppe angesprochen (also singular). Die angesprochene person hat gezeichnet – niemand anders. Und der vorgang ist bereits vergangen. Abgeschlossen. Tempus perfectum.
Das alles ist schon sehr eindeutig. Auf raum und zeit reduziert. Begrenzt. Finit.
Befinden wir uns noch in der sfäre der über allen wipfeln ruhenden idee, meinen wir also keinen bestimmten vorfall, dann reden wir von etwas grenzenlos-abstraktem, von etwas infinitem und wählen die entsprechende form des verbums. Mit endung! Mit der infinitiv-endung. Begeben wir aber uns in die welt des wirklichen, wollen wir von einem bestimmten vorfall sprechen, dann müssen wir unsere idee auf diese eine bestimmte zu beschreibende handlung eingrenzen und eine entsprechende form des verbums wählen. Mit einer anderen endung als der des infinitivs. Eine finite verbform.

Diesem verständnis folgt auch der Duden, wo es heißt, der infinitiv sei die form, die nur das gekennzeichnete sein oder geschehen benennt, ohne verbindung mit person, zahl, aussageweise oder zeit. Beim infinitiv handelt es sich mit den worten des Dudens um den reinen ausdruck des verbalbegriffes. … Was schon wieder ziemlich filosofisch klingt und den sachverhalt gut trifft.

Vorschlag für einen merksatz:

Infinitiv meint nicht etwa eine endungslose form des verbs, sondern eine form des verbums, in der keine konkretisierung (eingrenzung) auf eine bestimmte handlung stattfindet.

Einverstanden?