L a t e i n i s c h e s    k a b i n e t t

Epigramm

Vor rund zweitausend jahren schrieben manche lateiner sogenannte epigramme. Dieser aus dem altgriechischen stammende begriff meint aufschrift, also kein literarisches werk größeren umfangs, sondern etwas, das man gut „kurz irgendwo draufschreiben” kann. Wegen der kürze wurde der inhalt konzentriert, oft zugespitzt. Man kann ein epigramm auch mit einem graffitto vergleichen – nur drückte es sich eben nicht bildlich aus, sondern sprachlich. Der verfasser eines epigrammes will seiner leserschaft eine bemerkenswerte beobachtung oder erkenntnis mitteilen; oft geht es ihm darum, auf einen missstand hinzuweisen. Daher rührt auch der vielfach spöttische unterton manchen epigramms. Ridens dicere verum ist eine schöne umschreibung für das, was ein epigrammatiker (oder auch satiriker) tut. Im deutschen kennen wir auch den begriff des aforismus für einen spitz und knapp formulierten gedanken.

Martial ist einer der bekannteren lateinischen verfasser dieser gattung. Aber so weit brauchen wir nicht in die geschichte zurückzugehen. Niemand hindert uns daran, selber lateinische epigramme zu schreiben. Anlässe gibt es auch heute genug für eine anmerkung oder kritik. Hier soll ein epigramm aus dem lateinunterricht des 20. jahrhunderts vorgestellt werden, verfasst von Animus Durus. Da epigramme keine prosa sind, sondern es sich um dichtkunst handelt, bekommen Sie den zweizeiler nicht zu lesen, sondern im mp3-format zu hören.

Lasst den dichter sprechen! >>>

Einige anmerkungen zum verständnis:

• Die dichterische form äußert sich hier nicht vermittels eines reimes am zeilenende, sondern durch die rhythmische vortragsweise, wobei auf eine betonte, lange silbe entweder eine weitere lange, aber unbetonte silbe folgt oder zwei kurze, unbetonte silben. (Auf die einzelheiten des lateinischen versmaßes wie distichon, hexameter und pentameter soll hier nicht eingegangen werden, ebensowenig auf die frage, wodurch eine silbe lang oder kurz wird.) In obigem hörbeispiel wurde im interesse einer besseren verständlichkeit weniger wert auf die rhythmische sprechweise gelegt. Achtet man aber auf den rhythmus, mag man der versuchung erliegen, es weiter zu treiben und aus dem lateinischen gedichtvortrag einen rap zu machen. Doch will mir als rap-unerfahrener person dies nicht recht gelingen (hier ein erster versuch >>>). Bekommt es jemand besser hin?

• Wer sich schon einmal als dichter betätigt hat, wird die schwierigkeit kennen, das klanglich passende wort zu finden. Entsprechend großzügig nimmt sich aus diesem grund der dichter die freiheit, vom „guten latein” abzuweichen. Sofern es zur aufrechterhaltung des rhythmischen sprechflusses vorteilhaft ist, lässt er zwei silben zu einer verschmelzen, wenn auf den vokalischen auslaut eines wortes ein wort folgt, das seinerseits mit einem vokal beginnt (auslautender vokal trifft auf anlautenden vokal). Dies ist hier bei collegæ ægroto der fall, was im vortrag zu collegægroto zusammengezogen wird. Ein zweites mal findet solch eine kontraktion bei quinsanum statt, was vollständig ausgeschrieben quæ insanum lauten würde.

• Soterium, ī n kommt aus dem altgriechischen. Dort gibt es das substantiv σωτήρ, welches als so'ter [1] zu lesen und in das lateinische alfabet zu übertragen wäre. Dieses altgriechische wort bedeutet der retter. Davon ist das adjektiv σωτήριος, ον (lies so'terios, on) abgeleitet, welches heilsam, rettung bringend bedeutet. Das neutrum dieses adjektivs, σωτήριον (so'terion), wurde zu soterium, ī n latinisiert und bezeichnet im lateinischen ebenfalls etwas, das rettung bringt. Man könnte auch sagen: ein (hilfs-) mittel zur rettung – vergleichbar mit einem rettungsring an deck eines schiffes. Im kontext dieses epigramms ist die lage allerdings nicht so lebensbedrohlich, wir sollten unter „rettung” allgemeiner die unterstützung bei der überwindung eines misslichen zustandes verstehen. Sofern es nicht um schiffbruch geht, sondern um eine erkrankung, dann wäre besser von „genesung” zu sprechen. Ein soterium nimmt man also auf einen krankenbesuch als geschenk mit, um dem kranken etwas gutes zu tun … und so vielleicht zu seiner gesundung beizutragen.

• Reparare meint hier nicht die reparatur von etwas, das kaputt wäre, sondern, dass etwas ungeordnetes in einen bestimmten, gewünschten zustand gebracht wird. Ungekämmte haare sind auch nicht defekt und müssen nicht repariert werden, dennoch bringt man sie durch kämmen in einen bestimmten (geordneten) zustand. Die frisch gekämmte person ist „wieder bereit” (re-paratus) für den tag oder zum ausgehen …

Anmerkung
1   Wie in wörterbüchern heute üblich, dient der hochstrich ' in der lautschrift zur kennzeichnung einer betonten silbe. Und zwar steht er vor der betonten silbe. Beispiel: Im deutschen wort papier [pa'pi:r] wird die zweite silbe pier betont.